Leseprobe: DIESEL

Prolog

Es ist schon fast Mitternacht, als jemand an der Kabinentür klopft. Der Passagier dreht sich ärgerlich um – er hat gerade den Mantel ablegen und sich zum Schlafen bereit machen wollen. Das Nachthemd, akkurat gefaltet, liegt schon vor ihm auf dem Bett. Er hat ein Abendessen in angenehmer Gesellschaft und einen längeren Spaziergang in sternenklarer Nacht an Deck hinter sich, um einen Rest seiner Kopfschmerzen zu vertreiben, die ihn fast den ganzen Tag begleitet haben. Einige Stunden angenehmer Schlaf werden ihm jetzt gut tun, unterlegt vom schwach hörbaren Stampfen des Dampfantriebs der "Dresden" und einer kaum merklichen Dünung, die sich erst beim Verlassen der Schelde-Mündung in den ersten Morgenstunden verstärken wird.
Seine Kopfschmerzen waren heute freilich nicht so heftig, wie er sie von seinen Anfällen her kennt, die gelegentlich auftreten, wenn er unter großem Druck steht; heute war eher ein entspannter Tag, den er zum großen Teil in Gesellschaft des belgischen Industriellen George Carels und seines Chefkonstrukteurs Alfred Luckmann verbracht hat. Er hatte viel Fachsimpelei erwartet, aber die beiden waren rücksichtsvoll genug, ihn nicht mit beruflichen Fragen zu belästigen, so dass er sich morgen in größerem Kreise nicht wiederholen muss.
Diese Reisegefährten werden ihn später, wenn man ihnen über den Abend Fragen stellt, als "völlig guter Dinge" und "keinesfalls seekrank" schildern, in zuversichtlicher Stimmung.
Beim Abendessen haben sie auch geschäftliche Themen gemieden, es ist ja alles besprochen, und der morgige Tag wird genug davon bringen. Ein umfangreiches Programm steht ihm bevor, ein Aufwand, der fast an einen Staatsbesuch denken lässt. Eine Aktionärsversammlung, der er vorsitzen soll, dann die Eröffnung des neuen Werks in Ipswich sowie eine Ehrung, die ihm dabei von offizieller Seite zuteil werden soll – er rechnet mit einer Ordensverleihung durch den britischen König, aber seine Gastgeber haben sich bislang bedeckt gehalten.
Wie anders war das, als er Jahrzehnte zuvor zum ersten Mal nach England kam – als Bettelkind, vertrieben aus seiner Geburtsstadt Paris, auf der Flucht vor Krieg und Belagerung durch die Deutschen – die eigenen Leute!
Er braucht jetzt ein paar Stunden Nachtruhe. Die Störung ärgert ihn, zerstört die Abrundung des Tages, die Zufriedenheit, die er zum ersten Mal seit langer Zeit empfinden darf.
"Wer ist denn da?" – Die Frage richtet der Passagier eher an sich selbst, als er an die dunkel getäfelte Kabinentür tritt und die Hand nach dem Drehknauf ausstreckt.
"Herr Ingenieur, Sie haben etwas vergessen!", zischt eine Stimme, die offenbar mit Rücksicht auf schon schlafende Passagiere Lärm vermeiden will und auf diese Weise unmöglich zu erkennen ist.
Was kann er schon vergessen haben? Die Papiere liegen sicher verwahrt im Tresor der Zahlmeisterei, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sie zu einem Anlass wie dem Abendessen mitzunehmen. Er ließe sich auch nie so weit gehen, bei Tisch seine Uhr, sein Notizbuch, seine Brieftasche oder sonst einen Gegenstand abzulegen. Es ist eher die Neugier, die ihn dazu bringt, noch mit dem Mantel in der Hand die Tür zu öffnen und hinauszuspähen, und der Wunsch, den unwillkommenen Moment möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Im Gang brennt um diese Zeit die Notbeleuchtung, so dass er die Person neben der Tür nur als Schatten wahrnimmt. "Was...?", bringt er gerade noch hervor, dann wird ihm etwas Übelriechendes über Mund und Nase gepresst – die zweite Person auf der anderen Seite der Kabinentür hat er nicht bemerkt. Kurz wird ihm bewusst, dass er Chloroform einatmet. In Panik reißt er die Augen auf, wirft die Hände hoch, doch das Betäubungsmittel wirkt so schnell, dass er im gleichen Moment das Bewusstsein verliert.
"Schnell!", flüstert einer der Männer dem anderen zu, greift dem Bewusstlosen unter die Achseln und schleift ihn in Richtung Treppe, wo der zweite Mann die Füße nimmt. Gemeinsam tragen sie ihn nach oben.
Es gibt keine Zeugen. Niemand wird an Deck sein, die Wache gerade auf der anderen Seite des Passagierdampfers, das Augenmerk ohnehin eher auf die See gerichtet als auf das, was an Bord geschieht. Wenn ein möglicher Zeuge auftauchte, hätte man eine Ausrede parat: Dem Mann ist schlecht geworden, er braucht frische Luft, bitte helfen Sie uns doch, den Herrn Ingenieur in seine Kabine zurückzubringen. Man würde den Plan vertagen müssen, auch wenn sich eine Gelegenheit wie jetzt so schnell nicht wieder ergäbe. Es ist jedoch kein Zeuge da: Niemand sieht oder hört, wie den beiden Gestalten der schwere leblose Körper aus den Händen rutscht und auf die Planken fällt. Sofort nehmen sie ihn wieder hoch, der Mantel bleibt liegen. Man schaukelt den Körper zweimal hin und her, um den Bewusstlosen mit dem nötigen Schwung über die Reling zu schleudern. In kurzem Bogen taumelt er als dunkler Schatten in die Tiefe und schlägt aufs Wasser. Das Klatschen geht im Rauschen der Bugwelle unter.
Die Mörder drehen sich um und hören Schritte. Es bleibt ihnen gerade Zeit genug, den liegen gebliebenen Mantel ihres Opfers mit einem Tritt in tieferen Schatten zu befördern, dann verschwinden sie im Innern des Schiffes.
Es ist der 29. September 1913, eine ruhige Montagnacht am Ende eines windstillen spätsommerlichen Tages. Im Licht unzähliger Sterne gleitet die "Dresden" aus der Scheldemündung in die offene See.


München-Augsburger Abendzeitung Nr. 272
von Mittwoch, 1. Oktober 1913:
"London, 1. Okt. Unter geheimnisvollen Umständen ist der bekannte Erfinder des Dieselmotors Dr. Rudolf Diesel nach einer Meldung der 'Daily Mail' verschwunden. Dr. Diesel war am Montag an Bord des Dampfers 'Dresden' von Antwerpen nach Harwich in See gegangen, um einer Generalversammlung der Aktionäre seiner Gesellschaft in London beizuwohnen. Bei der Landung in Harwich wurde Dr. Diesel vermisst und trotz eifrigen Suchens konnte keine Spur von ihm gefunden werden. Das Bett in seiner Kabine war unberührt. Man vermutet, dass Dr. Diesel in der Nacht über Bord gefallen ist, als er noch einmal an Deck ging, um sich Kühlung zu verschaffen. Ein Selbstmord erscheint nach Angabe seiner Freunde und Bekannten ausgeschlossen, da er sich bei der Abreise von Antwerpen in bester Gemütsverfassung befand und auch seine pekuniären Verhältnisse nichts zu wünschen übrig ließen. (Eine Anfrage bei der Familie des Herrn Dr. Diesel ergab, dass der berühmte Erfinder sich allerdings auf einer Reise nach London befand und dass eine Postkarte aus Antwerpen seine bevorstehende Abfahrt nach Harwich meldete. Hoffentlich findet das Rätsel eine freundliche Lösung. Red.)


München-Augsburger Abendzeitung Nr. 273
von Donnerstag, 2. Oktober 1913:
[…] Alles war in der Kabine in Ordnung. Diesel war ein Mann von sehr regelmäßigen Gewohnheiten. Er rauchte nicht. Er war am Abend in bester Stimmung, litt aber viel an Schlaflosigkeit, und Carels spricht die Vermutung aus, dass irgendein plötzlicher Anfall die Ursache eines unerklärlichen Unglücks gewesen sein müsse.
Nur aus diesen merkwürdigen Umständen, die oben bekanntgegeben wurden, erklärt es sich, dass sich Diesels Mitarbeitern sogar der Gedanke an ein freiwilliges Ende des verdienten Mannes aufdrängte, ein Gedanke, der aber bei genauerer Überlegung von der Hand zu weisen ist. Sidney Weitman, der älteste Direktor der englischen Dieselmotoren-Gesellschaft, sagt, er habe seit Jahren mit Diesel in Briefverkehr gestanden und wisse, dass der Verschwundene mit besonderer Freude an seinen Besuch in England dachte […].